Zu Beginn des Projektes „Eingedenken“ diskutierten Christoph Korn und ich das Medium und die mediale Verbreitung einer Arbeit über geschichtliches Erinnern nach 1914 und Walter Benjamin. Es sollte auf einer akustischen und auf einer optischen Ebene funktionieren. Das world wide web gilt zumeist als Medium der zerstreuten, beschleunigten und fragmentarisierten Wahrnehmung. Aber das web ist im strengen Sinne neutral. Es bietet auch Platz für die Erfahrungen von Entschleunigung und der Andacht. Diese (Frei)Räume sind schließlich mit dem Netz erstmalig allen zugänglich und bleiben zum Glück nicht mehr den Eliten vorbehalten. Eine wahrhaft demokratische Errungenschaft also. Korns Kunst-Installation nutzt diese Möglichkeit. Sie ist der Versuch, den neuen Erfahrungsräumen von Kunst eine durch das Medium und durch die Medien vermittelte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Wie ist aber mit den Mitteln der Kunst auf Geschichte zu reagieren, wie kann Kunst mit der Geschichte agieren? Diese Frage kennzeichnet einen wichtigen Aspekt in Christoph Korns künstlerischen Arbeiten, die in ihrem minimalistisch-strengem Ansatz immer konzeptionell politisch angelegt sind.

Der Erste Weltkrieg begann 1914. Was hat 100 Jahre danach im Jahr 2014 Walter Benjamins „Über den Begriff der Geschichte“, das Ausgangsmaterial von Korns Installation, damit zu tun? Auf den ersten Blick: nichts unmittelbar Konkretes.

Diese 20 kurzen, formal zwischen Prosadichtung, Aphorismus, politischer Analyse und Essay stehenden Texte sind Fragment geblieben. Ihre Druckfassung von 1942 hingegen gilt als eine bis heute einflussreiche geschichtsphilosophische Reflexion. Ohne die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sie nicht zu denken, ohne den Ersten Weltkrieg, die russische und deutsche Revolution und die NS-Diktatur. Die Gefahr eines atomaren Krieges kannte Benjamin nicht. Die Thesen umkreisen, als eine mögliche Verständnislinie, die Auslöschung menschlicher Erfahrungsräume. Sie führen von den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bis zu den faschistischen Massenbewegungen und der Vernichtung der europäischen Juden. Der Erste Weltkrieg steht nicht als Solitär, sondern als erste katastrophale Konsequenz eines negativen Geschichtsprozesses. Benjamin setzt gegen den leeren Erfahrungsraum emphatisch den Begriff des geschichtlichen »Eingedenken«. Die Texte scheinen so auf als Zeugnis einer Sehnsucht nach poetisch-theoretischer Sprachwerdung der/des in der Geschichte Unterdrückten wie einer Sehnsucht nach »messianischer Erlösung«. Sie wenden sich gegen ein verklärendes Erinnern des Vergangenen wie wider eine historistische Gedenkkultur.

Was macht Christoph Korn mit ihnen? Er baut um sie eine Versuchsanordnung auf, die Korrespondenzen zwischen dem Heute und dem Vergangenen zieht. In deren Zwischenräume kann sich der Leser/Hörer/Betrachter/User hinein begeben und ihre Ordnung dabei selber gestalten. Der Erste Weltkriegs 1914-1918, die Revolutionen von1918/19, die faschistische Machtergreifung 1933, Benjamins Tod von 1940 und die Gegenwart - sie vernetzen sich.

Benjamin nahm sich auf der Flucht vor den Nazis 1940 das Leben. Seine letzte Etappe war der Fluchtweg vom französischen Dorf Banyuls-sur-Mer zum spanischen Grenzort Portbou. Den Fluchtweg geht Korn mit dem Mikrophon nach, dazu im Gepäck Benjamins Text und eine Videokamera. Der historische Weg kreuzt heute verkehrsreiche Straßen, bekannte Wanderwege und führt in unwegbares Gelände mit grandiosen Naturausblicken. Das Mikro nimmt die Geräusche auf - als field recordings von Fauna und Flora, von Korns Wanderschritten, nimmt auf sein Atmen, seine Versuche, die Texte, gehend und denkend, zu lesen. In 20 Hörbildern à 5 Minuten dokumentiert Korn den Vorgang.

Nach jedem Hörbild bleibt Korn stehen. Er stellt die Videokamera auf, richtet sie im Ausschnitt auf den Weg, den er hinter sich gelassen hat, und filmt 5 Minuten. Es ist zugleich der Weg zurück. Die Ausrichtung der Kamera verweist auf die IX. These von Benjamins Text. Paul Klees Gemälde „Angelus Novus“ deutet sie als Portrait des »Engels der Geschichte«, der zurückschaut auf die Geschichte als eine Erfahrung fortschreitender Katastrophen. Der Engel schweigt vor Entsetzen, anstatt die frohe Botschaft zu verkünden. In jede zweite Filmtonspur arbeitet Korn später einen Sinuston aus dem christlichen Kirchenlied „Herr, ich glaube fest an Dich“ ein, der die field recordings der Natur „übermalt“, wie es in der Bildenden Kunst heißt, und löscht. Die Sequenzen wirken wie kontemplative, in der Zeit verlaufende akustisch-filmische Still-Leben oder Andachtsbilder. Sie bleiben bei Korn offen. Sie geben keine Auskunft, die Ausweisung als noch zu gehendem oder schon begangenem Weg ist eine Frage der Benennung.

Korns Installation „Eingedenken“ lädt im world wide web ein, Räume der Kontemplation zu betreten, geschichtliche Ereignisse herbei zu zitieren und ihre Unabgeschlossenheit und offenen Fragen für die Gegenwart oder „Jetztzeit“ zu beschwören – sei es über ein Wiederlesen und Neu-Hören von Walter Benjamins Text, der, selber in einer Tradition stehend, von der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und des Faschismus gezeichnet ist; sei es über filmische Momentaufnahmen, die einen historisch zu verortenden Weg markieren, aber nicht mehr und nicht weniger zeigen als Sequenzen eines Weges, den Korn im Jahr 2013 wanderte. Ein offenes Kunstwerk par excellence möchte ich seine Arbeit nennen.

Manfred Hess

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